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Frau Stähli - Presse

Der Landbote, 19.11.2017

Reife als Vorteil und Erfolg

 

Mit Humor, Wehmut und Trotz bewegen sich die sieben Tänzerinnen zwischen 44 und 60 in den Szenen von «Frau Stähli geht vorbei». Was als Stück über «Tanzlust ohne Ablaufdatum» angekündigt wurde, fasziniert durch eine differenzierte, individuelle Tanzgestaltung.  

 

 

Die Tänzerin Andrea Maciel formuliert es prägnant: «You know, the system kills you before you die». Das System killt dich, bevor stirbst. Das Stück von Tina Mantel (Konzept und Choreografie) und Delia Dahinden (Regie) thematisiert den Jugendwahn und das Altern als Problem in den meisten Arbeitsbereichen.

«You know, the system kills you before you die.»

Andrea Maciel, Tänzerin

In der Kunst ist die Altersguillotine in vielen Bereichen stumpf, etwa in der Literatur, Musik oder Malerei. Im Tanz schlägt sie dafür extrahart zu. Viele klassische Tänzerinnen werden altershalber entsorgt, bevor sie ihr künstlerisches Potential verwirklicht haben. Auch moderne und zeitgenössische Tanzschaffende der Freien Szene haben Probleme, wenn Förderprogramme vor allem auf die Entdeckung und Unterstützung junger Talente fixiert sind.

Tina Mantel, Andrea Frei, Gaby Philip, Andrea Maciel, Angela Stöcklin, Christina Sutter und Claudia Ulrich lassen sich zum Glück nicht vom Tanzen abhalten. Denn Älterwerden geht zwar einher mit dem «Abschied von der flexiblen Wirbelsäule», mit tanztechnischen Einschränkungen und Wallungen. Doch es bedeutet auch Erfahrungen-Sammeln und künstlerisches Reifen, ohne die Lust, sich in Bewegung auszudrücken, zu verlieren. Und es bedeutet auch, das Eigene, Persönliche entwickelt zu haben, sei es in Tanz und Choreografie, theoretischer Weiterbildung, Truppenleitung oder Pädagogik.

Viele klassische Tänzerinnen werden altershalber entsorgt, bevor sie ihr künstlerisches Potential verwirklicht haben.

So verfügt der bunte Haufen aus den sieben verschiedenen Tänzerinnen über eine Vielfalt von darstellerischen und tänzerischen Ausdrucksmitteln. Er findet zu choreografischen Gruppen-Szenen zusammen, wobei das gemeinsame Ganze das Individuelle nicht verdrängt, sondern komplexer wird. Auch in den eigenständigen Soli ergänzen sich Bewegungselemente diverser Tanzstile und machen einzigartige Körpergeschichten sichtbar. Dabei wird das Publikum von den weitausgreifenden, schwungvollen Bewegungsfolgen ebenso gepackt wie von den reduzierten, doch äusserst präzisen minimalen Körperaktionen.

 

Tänzerinnen zwischen 44 und 60

Und die Tänzerinnen zwischen 44 und 60 scheinen mühelos in die anschwellenden und abflauenden Wellen der gegensätzlichen Lebensabschnitte einzutauchen: Sie tollen und hüpfen wild umher, machen eifrig Kinderspiele. Sie bilden langsam sich verändernde skulpturale Körperknäuel. Oder sie überqueren abgespannt mit zögerlichen, vorsichtigen Schritten die Bühne, ohne noch ein Ziel zu fokussieren, das über die simple, auf Sicherheit konzentrierte Vorwärtsbewegung hinausweist.

Dramaturgisch gut platziert ist das Zwischenspiel mit den Fotos aus verschiedenen Zeiten. Die tief Innen erlebte Gleichzeitigkeit der Lebensalter wird theatralisch umgesetzt und lässt den Wechsel der Porträts als hintergründiges Spiel mit Masken erscheinen.

Dem Ineinander der Altersablagerungen und Bewegungsformen entsprechen die Schichten der Klangbilder der Komponistin und Musikerin Fatima Dunn, die den Tanz mit Rhythmen und verfremdeten Celloklängen zu Beginn dynamisch in Schwung bringt und das Stück live und mit Loops grossartig begleitet. Die Uraufführung des Werks passt hervorragend ins Jubläumsprogramm des 25. Tanzfestivals Winterthur.